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Elias Canetti - Die gerettete Zunge

Diese Autobiographie hat Canetti in den Siebzigern geschrieben und sie umfasst seine Kindheit und Jugend bis zum Alter von 16 Jahren; es gibt noch zwei weitere Bände mit den Jahren danach. Aus einer wohlhabenden spaniolischen Kaufmannsfamilie stammend und die ersten Lebensjahre in Bulgarien verbringend zeigt sich früh, wie die Herkunft seine überaus abwechslungsreiche Kindheit prägt. Aus beruflichen Gründen bald nach Manchester gezogen, stirbt dort plötzlich der heißgeliebte Vater, was ihm, aber erst recht seiner Mutter sehr zu schaffen macht. Die weiteren zwei beschriebenen Lebensstationen sind Wien und Zürich. Auch wenn die Familie wohl immer wieder unter Geldmangel leidet (dies wird nicht genau ausgeführt), bleibt doch ein gewisser Ehrgeiz im Lebensstil und Canetti bekommt wohl keine Armut zu spüren.

Er entwickelt ein sehr enges Verhältnis zur Mutter, die ihn ihren vollen Ehrgeiz spüren lässt (und ihre Intelligenz) und ihn sehr zum Lernen erzieht, zumindest was Literatur angeht. Erst am Ende des Buches beginnen sich die beiden zu entfremden, aber hier bricht das Buch etwas plötzlich ab und den zweiten Band habe ich noch nicht gelesen.

Canetti porträtiert viele Klassenkameraden und Lehrer, aber auch seine Verwandtschaft sehr pointiert und amüsant. Er versucht die Erlebnisse nicht aus Sicht des Kindes zu erzählen, sondern bleibt der distanzierte und manchmal analysierende Erwachsene, der er zum Zeitpunkt des Schreibens ist. Die Porträts und die vielen Einzelerlebnisse, von denen er berichtet, machen das Buch leicht lesbar und es ist unproblematisch, wenn man es nicht in einem Rutsch durchliest. Mir hat es viel Vergnügen bereitet und ich war ganz fasziniert von der Fülle der Erlebnisse. Es ist nicht so, dass man einen Schlüssel zu seinem Werk geliefert bekommt oder wenige, wichtige Erkenntnisse aus dem Gelesenen ziehen kann. Es ist ein Bild des frühen 20. Jahrhunderts, was einem vermittelt wird und man liest viele Erlebnisse, die einfach unterhaltsam sind. Das Buch hat mir viel besser gefallen als sein Hauptwerk „Die Blendung“, die ich vor einigen Jahren begann und wieder weglegte – und zwar, weil ich mich über die Hauptfigur so geärgert habe.

8. Juni 2011