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Thomas Mann – Der Erwählte   (nach Hartmann von Aues „Gregorius“)

 

Im Doktor Faustus gibt Thomas Mann selbst eine Zusammenfassung seines Buches „Der Erwählte“, das eine Nacherzählung der mittelalterlichen Geschichte des „guten Sünders Gregorius“ ist.

(...) Geschichte >Von der Geburt des seligen Papstes Gregor<, einer Geburt, bei deren sündiger Ausgefallenheit es keineswegs sein Bewenden hat, während doch all die entsetzlichen Bewandtnisse des Helden nicht nur kein Hindernis sind für die schließliche Erhebung zum Statthalter Christi, sondern ihn nach Gottes wundersamer Gnade geradezu besonders berufen und vorbestimmt dafür erscheinen lassen. Die Kette der Verwicklungen ist lang, und es erübrigt sich wohl für mich, die Geschichte des verwaisten königlichen Geschwisterpaars, von dem der Bruder die Schwester über Gebühr liebt, so daß er sie unbeherrschterweise in mehr als interessante Umstände versetzt und sie zur Mutter eines Knaben von ausnehmender Schönheit macht, zu reiterieren. Es ist dieser Knabe, ein Geschwisterkind in des Wortes arger Bedeutung, um den sich alles dreht. Während sein Vater durch einen Zug ins Gelobte Land zu büßen sucht und dort seinen Tod findet, treibt das Kind ungewissen Schicksalen entgegen. Denn die Königin, entschlossen, einen so ungeheuerlichen Erzeugten auf eigene Hand nicht taufen zu lassen, vermacht ihn samt seiner fürstlichen Wiege in einem hohlen Faß und übergibt ihn, nicht ohne ein unterrichtendes Schrifttäfelchen hinzuzufügen, den Meereswogen, die ihn „am sechsten Feiertage“ in die Nähe eines von einem frommen Abte geleiteten Klosters tragen. Dieser findet ihn, tauft ihn auf seinen eigenen Namen Gregor und läßt ihm eine Ausbildung zuteil werden, die bei dem leiblich und verstandesmäßig ausnehmend Begabten aufs glücklichste anschlägt. Wie nun unterdessen die sündige Mutter, zum Bedauern des Landes, es abschwört, sich je zu vermählen – und zwar ganz offensichtlich nicht nur, weil sie sich als eine Entweihte, der christlichen Ehe Unwürdige betrachtet, sondern auch, weil sie dem verschollenen Bruder eine bedenkliche Treue wahrt; wie ein starker Herzog des Auslandes um ihrer Hand wirbt, die sie ihm verweigert, worüber er so heftig ergrimmt, daß er ihr Reich mit Krieg überzieht und es erobert bis auf eine einzige feste Stadt, in welche sie sich zurückzieht; wie dann der Jüngling Gregor, da er seiner Erstehungsart innegeworden, zum Heiligen Grabe zu pilgern gedenkt und statt dessen in die Stadt der Mutter verschlagen wird, wo er von dem Unglück der Reichsverwalterin erfährt, sich zu ihr führen läßt und ihr, die ihn, wie es heißt, „ genau betrachtet“, aber nicht erkennt, seine Dienste anbietet; wie er den grimmen Herzog erschlägt, das Land befreit und der erlösten Fürstin von ihrer Umgebung zum Gatten vorgeschlagen wird; wie sie sich zwar etwas ziert und sich einen Tag – nur einen – Bedenkzeit ausbedingt, dann aber, entgegen ihrem Schwure, einwilligt, so daß denn, unter großem Beifall und Jubel des ganzen Landes, die Vermählung vollzogen und ahnungslos Fürchterliches auf Fürchterliches gehäuft wird, indem der Sündersohn mit der Mutter das Ehebett besteigt, - ich will das alles nicht ausführen. Nur die affektbeladenen Höhepunkte der Handlung möchte ich erinnern (...) Oder wenn sie gewahr wird, mit wem sie in zärtlichster Ehe lebt, zu ihm spricht: „ O mein süßer Sohn, du bist mein einziges Kind, du bist mein Mann und mein Herr, du bist mein und meines Bruders Sohn, o mein süßes Kind, und du mein Gott, warum hast du mich lassen geboren werden!“ Denn so ist es ja, durch das selbst einst geschriebene Brieftäfelchen, das sie in einem Geheimgemach ihres Gatten findet, erfährt sie, mit wem sie, gottlob ohne ihm auch noch einen Bruder und Enkel ihres Bruders geboren zu haben, das Lager teilt; und nun ist es abermals an diesem, auf Bußfahrt zu sinnen, die er denn auch sogleich auf bloßen Füßen antritt. Er kommt zu einem Fischer, der „an der Feinheit seiner Gliedmaßen“ erkennt, daß er es mit keinem gemeinen Reisenden zu tun hat und sich mit ihm dahin verständigt, daß äußerste Einsamkeit das allein Zukömmliche für ihn ist. Er fährt ihn sechzehn Meilen weit in die See hinaus zu einem flutumbrandeten Felsen, und dort, nachdem er sich Fesseln hat an die Füße legen lassen und den Schlüssel zu diesen Fesseln ins Meer geschleudert hat, verbringt Gregor siebzehn Jahre der Buße, an deren Ende eine überwältigende, ihn selbst aber, wie es scheint, kaum überraschende Gnadenerhebung steht. Denn zu Rom stirbt der Papst, und kaum ist er gestorben, so geschieht eine Stimme vom Himmel herab: „Suchet den Mann Gottes Gregorius und setzt ihn zu meinem Stellvertreter ein!“ Da eilen Boten in alle Winde und kehren auch bei jenem Fischer ein, der sich erinnert. Da fängt er einen Fisch, in dessen Bauch sich der einst ins Meer versenkte Schlüssel findet. Da fährt er die Sendboten zum Büßerstein, und sie rufen hinaus: „O Gregorius, du Mann Gottes, steige zu uns herab vom Stein, denn es ist Gottes Wille, daß du zu seinem Stellvertreter auf Erden gesetzt werdest!“ Und was antwortet er ihnen? „Wenn das Gott gefällt“, spricht er gelassen, „so geschehe sein Wille.“ Wie sie aber nach Rom kommen, und die Glocken sollen geläutet werden, warten die darauf nicht, sondern läuten von selber, - alle Glocken läuten aus freien Stücken, zur Ankündigung, daß es einen so frommen und lehrreichen Papst noch nicht gegeben haben werde. Auch zu seiner Mutter dringt der Ruhm des seligen Mannes, und da sie zu Recht mit sich übereinkommt, daß keinem besser ihr Leben anzuvertrauen ist als diesem Erkorenen, macht sie sich auf nach Rom zur Beichte beim Heiligen Vater, der, als er ihre Beichte vernommen, sie wohl erkennt und zu ihr spricht: „O meine süße Mutter, Schwester und Frau. O meine Freundin. Der Teufel dachte uns zur Hölle zu führen, doch Gottes Übermacht hat es verhindert.“ Und baut ihr ein Kloster, darin sie als Äbtissin waltet, aber nur kurze Zeit. Denn beiden wird bald gestattet, ihre Seelen an Gott zurückzugeben.

(zitiert nach Th. Mann: Doktor Faustus, Band VI von Thomas Mann Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Fischer Taschenbuch Verlag, 1990, S.422-425)

Eine wirklich schöne Geschichte, die Thomas Mann in einem betont alten Deutsch schreibt, was einem das Gefühl gibt, in die entsprechende Zeit versetzt worden zu sein. Wie auch bei „Joseph und seinen Brüdern“ ist die ursprüngliche Geschichte aufs Schönste ausgeschmückt mit wichtigen und nebensächlichen Details. Das Buch ist nicht das Bekannteste von Mann, aber sehr zu empfehlen.

26.08.04