Walter Mischel - Der Marshmallow-Test
Auf dieses Buch bin ich über Zeitungsartikel gestoßen, hatte aber auch schon vorher von den berühmt gewordenen „Marshmallow-Tests“ gehört. In den 1960er Jahren hat dieser amerikanische Psychologe Kindergartenkinder vor die Wahl gestellt, jetzt eine Süßigkeit oder später zwei Süßigkeiten zu erhalten und dann beobachtet, ob und wenn ja, wie die Kinder die Wartezeit in einem langweiligen Raum (in Anwesenheit der Süßigkeiten) überbrücken. Die Weiterführung der Tests und die Untersuchung von Zusammenhängen, die andere Charaktereigenschaften mit dem „Aufschubvermögen“ haben, haben über nun vierzig Jahre hinweg viele spannende Erkenntnisse gebracht. Insbesondere führt Selbstbeherrschung dazu, ein erfolgreicheres und glücklicheres Leben zu führen.
Der inzwischen über 80jährige Mischel hat nun die Erkenntnisse rund um das Thema für den Laien aufbereitet, zwar mit einigen Wiederholungen, aber insgesamt hochinteressant und mit Ratschlägen für das eigene Leben, für Lehrer und die Kindererziehung. Ein Fazit des Buches ist, dass weder die Gene noch die Umgebung die Entwicklung des Menschen bestimmt. Die Umgebung kann nur wirken, wenn die Gene da sind. „Wenn wir uns auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse (der letzten 20 Jahre) einlassen, dann zeigt uns die Entwicklung der Formbarkeit des Gehirns, dass die menschliche Natur flexibler und wandlungsfähiger ist, als man lange Zeit glaubte. Wir kommen nicht mit einem Bündel fester, stabiler Merkmale auf die Welt, die bestimmen, wer wir werden. Wir entwickeln uns in ständigen Interaktionen mit unserem sozialen und biologischen Umfeld weiter.“
Wichtig ist die Kontrollüberzeugung „ich glaub, ich kann’s!“ und die Überzeugung, dass man sich weiterentwickeln kann, also die Eigenschaften und der Lebensweg nicht determiniert sind. Eltern können diese Überzeugung fördern, indem sie ihren Kindern Aufgaben geben, die anspruchsvoll, aber nicht ZU anspruchsvoll sind, damit die Kinder Erfolgserlebnisse haben und dann auch eher hohe Erfolgserwartungen ausbilden. Denn diese führen zu mehr Ausdauer. Und dann sollte man sie dafür loben, sich angestrengt zu haben und nicht dafür, schlau zu sein. Eine gewisse Selbstüberschätzung (90% der Autofahrer halten sich für besser als den Schnitt der Autofahrer) ist übrigens gesund, psychisch Kranke dagegen schätzen sich oft selbst viel realistischer ein als Gesunde.
Wenn man heftiges Verlangen nach etwas verspürt, sollte man versuchen, die psychologische Distanz zu vergrößern, indem man sich z.B. vorstellt, das ersehnte Objekt liege nicht vor einem, sondern sei weit weg oder indem man sich auf die Fakten (Form, Gewicht etc.) des Objektes konzentriert und nicht die attraktiven Seiten (Geschmack) betont. Umgekehrt sollte man sich bei unangenehmen Dingen wie Abnehmen oder Sport treiben die positiven, langfristigen Effekte möglichst lebhaft ausmalen und dadurch das „heiße System“ aktivieren. Eine ähnliche Strategie ist die Selbstdistanzierung, mit der man bedrückende Gefühle wie Liebeskummer oder Trennungsschmerz besser bewältigen kann. Man sollte sich vorstellen, wie eine dritte Person (oder die Fliege an der Wand) die eigene Situation beurteilen würde.
Aggressionen kann man versuchen, mit Wenn-Dann-Plänen in den Griff zu bekommen. Zunächst muss man die kritischen Situationen erkennen, also das zugrundliegende Muster, bei dem die Aggressionen hochkommen. Und dann muss man einen Plan entwickeln, was man tun will (klassisch: bis 20 zählen, bevor man losschimpft), wenn die Anfänge einer solchen Situation erkennbar sind. Dies kann man auch für seine Kinder tun.
Menschen sind selten in sich konsistent, d.h. sie haben eine Eigenschaft zwar in bestimmten Situationen, in anderen aber nicht. Das kann man gut an der Selbstkontrolle sehen, die viele Prominente besitzen mussten, um prominent zu werden (falls sie durch Leistung prominent wurden), die viele dann aber nicht haben, wenn sie die Gelegenheit zu einer Affäre oder einem Betrug haben. Die Bestürzung über den Sturz so vieler Prominenter kommt daher, dass wir Menschen meist glauben, dass eine selbstdisziplinierte Person immer selbstdiszipliniert ist, obwohl dies eben nicht für alle Situationen oder Lebensbereiche gilt. So können Menschen einen ordentlichen Schreibtisch im Büro haben, zu Hause aber sehr unordentlich sein.
17. August 2015