zurück zur Bücherliste

Hanns-Josef Ortheil - Die Berlinreise

Hanns-Josef Ortheil begann bereits als Kind, stets ein Notizbuch bei sich zu haben und darin zu notieren, was er so beobachtete und fühlte. So hat er auch auf einer Reise nach Berlin mit seinem Vater 1964, als Zwölfjähriger, genau Tagebuch geführt. Diese Aufzeichnungen hat er nach der Reise überarbeitet und seinem Vater zu Weihnachten geschenkt – und dieser Text ist nun 50 Jahre später als Buch erschienen. Es ist ein Reisebericht, aber auch eine genaue Beobachtung und Beschreibung der Personen, mit denen er unterwegs ist. Das ist nicht nur sein Vater, sondern auch ein alter Freund des Vater (die Eltern hatten zu Beginn des 2. Weltkriegs in Berlin gelebt) und das Ehepaar, das die Pension bewirtschaftet, in der sie übernachten. Er merkt genau, wann jemand in alten Erinnerungen schwelgt und dabei traurig wird, und er durchschaut Verhaltensweisen sehr schnell und stellt sich darauf ein. Nebenher erfährt er einiges über die Familienvergangenheit.

Vater und Sohn laufen durch die Stadtteile, die der Vater von früher gut kennt, gehen in den Zoo, ins Kino, französisch Essen, fahren einmal mit einer Stadtführung in den Osten der Stadt und einmal auf eigene Faust und ein paar Mal darf der Junge auch selbst losziehen und erlebt ein „Abenteuer“. Er spricht nämlich in einem Fischgeschäft, in das die Mutter früher gern ging, die Verkäuferin an, und erzählt, er brauche was „Fischiges“ für seine Mutter, die ja gar nicht mitgereist ist. Er nennt das Lieblingsessen der Mutter und darüber errät die Fischverkäuferin, wer seine Mutter ist, weil sie damals mit ihr befreundet war.

Der Stil des Buches ist viel erwachsener, als von einem Zwölfjährigen zu erwarten, dennoch schreibt Ortheil an vielen Stellen so kindlich-ehrlich, dass es einem naiv aber zugleich auch sehr realistisch vorkommt. Kindliche Beobachtung ist oft so schonungslos! Es macht große Freude, diesen Reisebericht zu lesen und die 280 Seiten sind schnell verschlungen. Wenn man zudem Berlin ein wenig kennt und mag, freut man sich über die Beschreibungen, z.B. die damals noch ganz neue Philharmonie.

26. Oktober 2014