Richard David Precht - Wer bin ich und wenn ja, wie viele?
Nachdem ich mehrfach in den Medien vom Philosophen Precht gelesen hatte, wollte ich nun wissen, ob er wirklich philosophische Themen verständlich erklären kann und besorgte mir seinen Bestseller. Und ja, für ein Buch mit einem so schwierigen Thema wie das „Ich“ ist es gut lesbar. Er kombiniert die biologisch-medizinischen Erkenntnisse mit denen der Philosophie, denn wenn es um das menschliche Gehirn geht, braucht man beide Bereiche, um es einigermaßen zu verstehen.
Jedes der nicht zu langen Kapitel erläutert die Diskussion zu einer Teilfrage – aber oft genug bekommt man keine Antwort, sondern den Stand der Diskussion. So ist das eben in der Philosophie! Er beginnt mit der Erläuterung der Evolution und zeigt, wie nah verwandt wir den Tieren doch sind. Um den Aufbau und die Funktionsweise des Gehirns zu erklären, wechselt Precht zur Hirnforschung. Auch wenn es noch so schön wäre: Es ist nicht so, dass Vernunft, Moral oder Emotion eindeutige Bereiche im Gehirn haben. Gefühle lassen sich bio-chemisch leicht erklären, warum sie jedoch auftauchen, ist kaum ergründbar. Hier kommt das Unterbewusstsein ist Spiel: Das Unterbewusstsein steuert den Menschen viel mehr als man auf den ersten Blick vermutet. Es wäre ja auch schlimm, über jede Körperbewegung erst konkret nachdenken zu müssen, bevor man sie ausführen könnte. Was aber nicht heißt, dass wir „fremdgesteuert“ sind, denn wir können das Unbewusste mit Vernunft überlisten. Bei der Erinnerung ist die biologische Erklärung erneut vergleichsweise einfach, während es schwer zu erklären ist, wie das Wichtige vom Unwichtigen getrennt wird, also an was wir uns erinnern. Voraussetzung für bewusstes Erinnern ist aber die Sprache, denn ohne sie können wir Erlebtes nicht reflektieren. Wittgenstein sah die Sprache als ein Mittel zu Abbildung der Realität an. Diese Sichtweise hat sich nicht bewährt, denn die stoffliche Welt lässt sich nicht eins zu eins in der Sprache abbilden. Sprache ist oft vage und vieldeutig (was ihren Reiz ausmacht).
Nach diesem ersten Buchteil über das WISSEN über das Ich schreibt Prechtl über das TUN. Der Mensch ist ein soziales Wesen, d.h. braucht andere Menschen und aus dieser Interaktion heraus ergibt sich auch, das Altruismus manchmal von Vorteil ist für das Miteinander. Der Mensch ist aber nicht nur gut, sondern gut und böse zugleich – dieser Erkenntnis gingen lange Diskussionen voraus, ob der Mensch im Grunde gut oder böse sei. Ob Moral angeboren oder erlernt ist, lässt sich nicht endgültig klären, jedoch zeigen Beispiele, dass sich die Moralvorstellungen beeinflussen lassen.
Es folgen mehrere Kapitel zu spannenden Themen: Abtreibung, Sterbehilfe, Vegetarier, Naturschutz, Klonen, PID. Er stellt die Argumente der verschiedenen Sichtweisen vor und nimmt manchmal auch selbst Stellung.
Über dem letzten Teil des Buches steht die Frage: Was darf ich hoffen? Precht stellt Gottesbeweise vor, versucht zu erklären, was Freiheit ist, was Liebe und was Gerechtigkeit. Er endet mit der menschlichen Suche nach dem Glück (ja, man kann lernen, glücklicher zu werden!) und der Frage nach dem Sinn des Lebens.
Das Buch umfasst also die wichtigsten Fragen zum Leben und zum Selbst und eröffnet dem Leser viele Einsichten. Weil aber das Wissen in diesem Buch sehr komprimiert ist, liest es sich natürlich nicht flüssig und es bleibt auch vieles nicht hängen beim einmaligen Lesen. Man könnte es aber zur Hand nehmen, wenn eine der vorgestellten Diskussionen mal wieder auftaucht. Und man könnte Teile immer wieder lesen, damit man nach und nach dann doch mehr behält. An dem Themenbereich Interessierten kann ich das Buch durchaus empfehlen.
10. Dezember 2011